Christian Kesten / Steffi Weismann

ja es ist plötzlich wärmer geworden


für 2 Frauenstimmen, 2 Männerstimmen, Sopransaxophon, Trompete, Tuba, Elektronik und Video

2002/2003

Konzeption und Regie Christian Kesten(D) & Steffi Weismann (CH)
Komposition Christian Kesten
Bühne, Video Steffi Weismann
Kostüme Dorothee Scheiffarth (D)


Darsteller/Musiker

Boris Baltschun (D) Elektronik
Alessandro Bosetti(I) Sopransaxophon
Fernanda Farah (Bras) Stimme
Axel Dörner(D) Trompete
Robin Hayward (GB) Tuba
Michael Hirsch (D)Stimme
Henrik Kairies (D) Stimme
Jo Stone (AUS) Stimme

Uraufführung:
11.-13.Juli 2003
Staatsbank Französische Straße Berlin





Man könnte vielleicht das Wetter beeinflussen, indem man Schwalben dressiert, dass sie niedrig fliegen.

ja es ist plötzlich wärmer geworden



Alltägliche Kommunikation beginnt oder endet oft mit einem Satz über das Wetter. Solche Gesprächsmomente, die sich am Rande des Nichts bewegen, sind Ausgangspunkt für ein Stück, dessen Dialoge Sprungbrett sind für den Sprung zwischen die Zeilen.
In den romanischen Sprachen gibt es nur ein Wort für Wetter und Zeit. Wetter ist immer. Zeit ist immer. Vergangenheit ist Erinnerung, Zukunft Prognose. Wo wir sind, ist Jetzt.

Kompositorisch arbeitet das Stück auf verschiedenen Ebenen, die als Kontinuum ineinander übergehen, ineinandergreifen oder nebeneinander stehen und sich als Schichten überlagern:
inhaltliche Dialoge – Sprachkompositionen – geräuschhafte "extended vocal techniques" – fein ausdifferenzierte Rauschklänge der Bläser – elektronische sampling-Verfahren - Video.





Textmaterial

Im Alltag aufgeschnappte Bemerkungen über das Wetter, Fundstücke konkreter Poesie, wurden in Dialogform gebracht. Äußerungen wie "ja es ist plötzlich wärmer geworden" oder "Ich kenne eine Frau, die hat Sonnenallergie; das was Hannelore Kohl hatte".
In einer ersten Probenphase hielten die Spieler Referate zu wetterspezifischen Themen. Die anschließenden Diskussionen wurden auf Tonband aufgezeichnet. Das maßgebliche Textmaterial des Stücks basiert auf der Transkription einer Gruppendiskussion über die Manipulierbarkeit des Wetters. Verhaspler, Versprecher, halbe Worte, Ansätze, Durcheinandergespochenes wurden minutiös transkribiert und in Dialogform gebracht.


Klangmaterial

vokal

Das Klangmaterial der Vokalisten besteht neben Sprechen aus "gefärbtem Atem", durch Frikative erzeugten Rauschklängen, und Mischklängen zwischen Luft und Ton, die den Kehlkopfeinsatz durch z.B. Knarren, Pressen oder starkem Verhauchen verzerren. Die Klänge werden aus- und einatmend erzeugt.


Bläser

Das Material der Bläser besteht fast ausschließlich aus Rauschklängen in feinsten Differenzierungen. Luftgeräusche, Klänge zwischen Luft und Ton, mit und ohne Mundstück, beeinflusst durch verschiedene Anblastechniken, Flatterzungen-, Dämpfer- oder Ventileinsatz.


Sprachkompositionen

Sie bilden das Bindeglied zwischen den (inhaltlichen) Dialogen und dem Rauschmaterial. Im Sprechen werden Frikative zu Rauschplateaux verschiedener Färbungen ausgehalten. Oder Plosive im Text werden instrumental gedoppelt. Sprache wird somit abstrakter Klang bzw. auch die - ohnehin leerlaufenden - Dialoge werden als Klang gehört.


sampling

Das Samplingmaterial basiert allein auf den Klängen der Bläser sowie dem Stück entlehnten stimmlichem Material der Vokalisten. Dieses Material wird auf unterschiedliche Weise und in unterschiedlichem Maße elektronisch bearbeitet. Die Parameter der Bearbeitung werden graphischen Notationen unterworfen.


Graphische Notation

Im Internet gefundene Wetterprognosediagramme dienen als graphische Notationen. Einem Diagramm wird spezifisches Klangmaterial zugeordnet und die Lesart der Linien und Zeichen klar definiert. Daraus ergeben sich je Instrument und Stimme unterschiedliche Module, deren Dauer zwischen 20 Sekunden und 30 Minuten differiert und die unterschiedlich geschichtet werden. Zum Teil werden Diagramme auch als Duos oder Trios gelesen.
Die aktuellen Prognosen können am Aufführungstag oder zur letzten Probenwoche neu ausgedruckt werden und geben jeder Aufführung ihre aktuelle individuelle Prägung. So kommen die Aspekte des Zufalls und der Aktualität ins Spiel.


Raum und Raumklang

Wetter bzw. Klima wird bei "ja es ist plötzlich wärmer geworden" in einem kleinen Innenraum künstlich hergestellt. Zentral im Raum steht eine durchsichtige Zelle mit Schrägdach, die mit einer Live-Kamera, Mikrofonen, Ventilator, Wasserkocher und Blitzgerät ausgestattet ist. Zwei gegenüberliegende Wände der Zelle können ganzflächig mit Folie wie Fensterrollos auf- oder zugezogen werden und dienen als Video-Projektionsflächen.

Der Umraum definiert sich durch vier Zuschauerblöcke, mehrere Freiflächen und ein Feld von Lautsprechern. Die Lautsprecher hängen – gleichmäßig ungleichmäßig im gesamten Raum verteilt - in unterschiedlicher Höhe, zum Teil auch über und hinter dem Publikum und erzeugen so unabhängig von den Positionen der Performer Klangbewegungen im Raum. Die Stimmen und Geräusche aus der Zelle werden nahe an die Zuschauer "herangezoomt" oder elektronisch verfremdet. Wenn sie jedoch bei geschlossener Tür unverstärkt stattfinden, sind sie nur leise und undeutlich wahrnehmbar.
Es ergibt sich sowohl szenisch wie auch akustisch ein Spannungsverhältnis zwischen Innen- und Außenraum, was durch Klänge, die von außerhalb des Aufführungsraumes kommen, zusätzlich potenziert wird.

Durch unterschiedliche Positionierung der Interpreten im Raum entstehen verschiedene Klang-"skulpturen", Klangräume: eine Menschentraube bewirkt eine Klangballung; eine lockere Positionierung mit homogenem Material ergibt so etwas wie ein Netz; eine lose Aufstellung im Raum mit individuellem Material und gegebenenfalls viel Stille produziert einen offenen (Klang-)Raum. Hier überlagern sich auch unterschiedliche Schichten.
Auch durch das Lautsprechernetz werden unterschiedliche Klangraumstrukturen hergestellt: Zum Beispiel wird ein Dialog über zwei weit voneinander entfernte Lautsprecher übertragen oder wandert langsam im Raum; oder elektronisches Samplingmaterial wird solistisch eingesetzt und stellt über einen Lautsprecher eine vereinzelte Klangsäule in den Raum; oder gesamplete Klänge laufen als Netz über alle Lautsprecher; oder ein Instrumentalist spielt mit elektronischem Material im Duo, wobei durch verschiedene Entfernung von Spieler und aktivierter Lautsprecherbox unterschiedliche Linien im Raum entstehen.



Video

Die Bilder für die Projektionen stammen einerseits von der Live-Kamera in der Wetterzelle und andererseits von eingespielten Videofilm-Sequenzen.
Das Filmmaterial kann in zwei Kategorien eingeteilt werden:
1. Satellitenbilder, aktuelle Wind- und Blitzkarten, Temperaturprognosen etc. die von Wetterdiensten aus dem Internet stammen.
2. Kamerafahrten auf Reisen, aus Seilbahnen, Strassenbahnen oder Zügen gefilmt bei unterschiedlichen Witterungsverhältnissen
Die Karten wirken vor allem durch ihre abstrakten und ästhetischen Qualitäten. Manchmal werden sie aber auch als graphische Notationen "gelesen" und live interpretiert. Die projizierten Reisefilme hingegen transportieren die Zelle mit den sich darin befindenden Performern in andere Realitäten, wenn unvermittelt konkrete Landschaften und Orte auftauchen.
Bei solchen Bildern wird die Live-Kamera dazugeschaltet. Die Gesichter der Sprecher werden beispielsweise vor dem Hintergrund einer Zugfahrt durch einen Platzregen gefilmt. Die Zuschauer sehen sowohl als separate Elemente die Live-Spieler vor der Regenprojektion, als auch auf der zweiten Projektionsfläche die Verschmelzung dieser beiden Ebenen zu einer fiktiven Filmszene.
Die Live-Kamera wird im "Wetterstudio" auch zur simplen Vergrößerung von physikalischen Vorgängen verwendet: Wenn in einem Glaskrug langsam Wasser zum Kochen gebracht wird, um später Tee damit aufzugießen, erzeugen die kleinen Bläschen in der Großprojektion die Atmosphäre eines Schneesturms.
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